Digitalisierung ist kein IT-Projekt

Ann Cathrin Riedel ist Geschäftsführerin des NExT e.V. Im Interview spricht sie über Hürden auf dem Weg der Verwaltungsdigitalisierung – und über die Fragen, die die Netzwerkmitglieder aktuell beschäftigen.

Ann Cathrin Riedel

ist Geschäftsführerin des NExT e.V. sowie unter anderem Mitglied im Digitalrat des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr sowie Vorsitzende des LOAD e.V. – Verein für digitale Netzpolitik.

»Künstliche Intelligenz ist gerade ein Riesenthema.«

Frau Riedel, Sie sind jetzt seit März Geschäftsführerin des NExT e.V. Was ist Ihr Eindruck: Wie steht es um die digitale Transformation der deutschen Verwaltung? 

Eigentlich hat sich meine bisherige These bestätigt: Dass wir in Deutschland wahnsinnig viele sehr motivierte und fähige Menschen haben, die in der Verwaltung an der Verwaltungsdigitalisierung arbeiten. An denen liegt es sicher nicht, dass wir heute nicht an dem Punkt stehen, an dem wir stehen könnten. Unsere Herausforderung sind eher die Prozesse und Strukturen: Da fehlt es zum Beispiel an Möglichkeiten, kollaborativ zusammenzuarbeiten, obwohl Projekte im Digitalbereich häufig die Ressortgrenzen überschreiten. Zudem wird noch sehr viel mit E-Mails und Anhängen gearbeitet, das ginge effizienter. Und man könnte sicher bei den Vorgaben und Richtlinien entschlacken. 

Warum haben wir überhaupt diese Schwierigkeiten? Gerne wird ja auch gesagt: Schaut doch mal nach Estland, da klappt das doch auch? 

Naja, Estland ist kleiner als Berlin, und deshalb schon kein guter Vergleich. Was man aber von Estland lernen kann: Die Führungsebene muss den Willen, digital zu arbeiten, vorleben. Die estnische Regierung macht das beispielsweise, indem sie ein komplett papierloses Kabinett eingeführt hat. Unser größtes Problem bei der Verwaltungsdigitalisierung ist allerdings, dass Kommunen und Bund verfassungsrechtlich nicht miteinander dürfen. Was der Bund macht und was die Kommunen brauchen, passt daher häufig nicht zusammen. Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zu schaffen, und wenn es erstmal nur Gesprächskanäle sind, wäre ein Riesenfortschritt. 

Warum ist das so wichtig?

Lokales Wissen darf kein Machtfaktor mehr sein; eigentlich muss es heißen: Je mehr ich von meinem Wissen teile, desto besser werde ich. Dafür wollen wir als NExT e.V. eine Plattform bieten. Wir haben auf kommunaler Ebene 11.000 Mal die gleichen Probleme. Wir brauchen aber nicht 11.000 Mal über die Lösung grübeln. Es muss möglich sein, dass sich Menschen, die an denselben Problemen arbeiten, kennenlernen, sodass sie sich später gegenseitig anrufen können und fragen: Hey, du hast doch genau das gleiche Problem, wie hast du das gelöst? In einem demokratischen Gemeinwesen sollte es selbstverständlich sein, dass wir uns in der Verwaltung gegenseitig unterstützen. Und das beginnt beim miteinander Reden.

Wie funktioniert „voneinander lernen“ bei Ihnen? 

Dafür sind insbesondere unsere 13 geschützten „Communitys of Practice“ wichtig, die sich exklusiv an Menschen aus dem öffentlichen Dienst richten. Diese Communitys tagen vier bis sechs Mal jährlich und sind themenspezifisch organisiert. Es geht etwa um KI und Machine Learning, um Chatbots, mobile Apps oder um (Multi-)Projektmanagement. In den Sitzungen stellen Menschen aus der Community Projekte vor, an denen sie arbeiten, die sie umgesetzt haben – oder an denen sie vielleicht auch gescheitert sind. Zwischendrin haben wir sogenannte Speed Dating Sessions, um Menschen zufällig und hierarchieübergreifend in Kontakt zu bringen. Dabei arbeiten wir mit dem kollegialen „Du“, dass erleichtert das Kennenlernen.

Was sind gerade die „heißen Themen“ in der Community? 

Künstliche Intelligenz ist gerade ein Riesenthema bei allen: Was macht das, wie können wir das einsetzen, für welche Zwecke? Aktuell beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe zum Beispiel mit dem KI-Transparenzregister, das durch den europäischen AI Act umgesetzt werden muss. Die Mitglieder der Werkstatt sagen: Wer, wenn nicht wir aus der Verwaltung, könnte da mal einen Aufschlag machen? Was alle umtreibt, ist außerdem die Sorge vor der großen Pensionierungswelle und das Thema Fachkräftemangel. Können wir durch die digitale Verwaltung, teilweise auch durch eine Automatisierung von Prozessen, den Wegfall von sehr viel Wissen und auch einfach Arbeitskräften zeitnah auffangen? 

Stichwort KI: Welche Innovation treibt die digitale Transformation besonders voran? 

Ich glaube, wir brauchen nicht unbedingt Innovation, um die Verwaltungsdigitalisierung voranzubringen. Natürlich kann man mit Automatisierung etwas erreichen. Aber für mich sind vor allem die Themen Standards und Datenverfügbarkeit zwei wirklich wichtige Bausteine – obwohl sie oft als langweilig gelten und man auch in der Politik keinen Blumentopf damit gewinnen kann. Dabei ist das zentral: erstens Standards und Schnittstellen zu schaffen und zu nutzen und zweitens Daten verfügbar zu machen, Datenkompetenz entwickeln, Daten zu analysieren und auf dieser Grundlage bessere Entscheidungen zu treffen. Wir haben überall Menschen, die Expert*innen sind für das Thema Datenverfügbarkeit. Die möchte ich gern einladen, bei uns eine Community zu gründen. 

Was ist sonst wichtig, damit Verwaltung innovativ sein kann?

Die Verwaltungsdigitalisierung ist keine IT-Aufgabe, sondern es geht um Organisations- und Personalentwicklung. Das darf man nicht vergessen. Wir müssen die Kompetenz eines jeden Menschen sehen, der dort arbeitet, und ihm klarmachen: Du bist essenziell für diesen Prozess der Transformation. Ich glaube, oft wird unterschätzt, dass es hier um einen Change-Prozess geht, in dem jede und jeder Einzelne seinen Beitrag leisten kann – und auch muss. 

Inwiefern spielt die Perspektive der Bürger*innen dabei eine Rolle?

Eine digitale Verwaltung muss anwenderfreundlich sein. Denn eine Verwaltung bietet eine staatliche Leistung an, auf die Bürger*innen Anspruch haben. Wenn dann Frustration entsteht, weil Sachen nicht funktionieren, der Zugang kompliziert ist oder Dinge nicht auffindbar sind, ist das ein massiver Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit des Staates. 

Sie kennen den Status quo der Verwaltungsdigitalisierung in vielen Bereichen. Wie blicken Sie auf die Steuerverwaltung? 

Mein Blick auf KONSENS und vor allem auf ELSTER beruht vor allem auf meiner politischen Arbeit. Da habe ich ELSTER als Erfolgsprodukt kennengelernt, das uns vor Augen führt, wo wir auch bei anderen Themen stehen könnten, wenn wir genauso früh angefangen hätten. Aktuell ermöglicht ELSTER mir als Bürgerin zum Beispiel, meine Steuererklärung in einem Interviewformat zu erledigen. Das zeigt, wie einfach und effizient eine digitale Erfahrung mit einer Behörde funktionieren kann. 

Springen wir in die Zukunft. Wie könnte digitale Verwaltung in zehn Jahren aussehen? 

Die Verwaltungsdigitalisierung ist ein Generationenprojekt. Das wird nicht 2030 fertig sein und auch nicht 2050. Ja, wir brauchen schneller Erfolge und müssen schneller unsere Meilensteine erreichen. Aber wir werden nie fertig werden; es wird immer neue Technologien geben. Wir sollten daher dahin kommen, dass Angebote wirklich nutzerzentriert sind und wir Prozesse komplett neu denken. Das ist nochmal ein enormer Aufwand, weil wir bisher oft nur eine Elektrifizierung der Verwaltung machen, keine wirkliche Transformation. Aber das wünsche ich mir: eine wirklich bürgerzentrierte digitale Verwaltung, die viel automatisiert und trotz des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels leistungsfähig ist.

 

 

ÜBER NEXT E.V.

Der NEXT e.V. bietet Beschäftigten aus der öffentlichen Verwaltung einen geschützten Raum für den offenen Austausch. Rund 3.000 Menschen engagieren sich in dem »Netzwerk: Experten für die digitale Transformation der Verwaltung«. Schirmherr ist Bundes-CIO Dr. Markus Richter.