Auf dem Weg in die Wolken
Cloud Computing ist der Schlüssel für effizientes digitales Arbeiten und Zusammenarbeiten. Bei der Entwicklung und dem Betrieb von Software setzt die Finanzverwaltung zunehmend auf cloudfähige Anwendungen.
Jürgen Thiel
»Der wichtigste Vorteil, den wir uns von Cloud Computing erwarten, ist ein Mehr an Effizienz und eine höhere Geschwindigkeit in unseren Prozessen.«
Vernetztes Arbeiten in einer virtuellen »Wolke«: Dieses Bild klingt nach Freiheit und digitalen Abenteuern. Zunächst scheint es nicht viel mit der Finanzverwaltung zu tun zu haben. Doch wer näher hinsieht, erkennt: Genau dabei kann Cloud Computing in Zukunft helfen. Deshalb gewinnt die Technologie für KONSENS im Rahmen der Softwareentwicklung immer mehr an Bedeutung.
Doch was genau ist eigentlich diese Cloud? In der Computerbranche ist immer wieder der Satz zu hören: »Die Cloud, das sind erst mal Computer anderer Menschen.« Mit diesem Prinzip sind Nutzerinnen und Nutzer in der Finanzverwaltung seit vielen Jahren vertraut – länger, als es Cloud Computing überhaupt gibt. Die für die Besteuerung relevanten Daten werden nicht auf dem eigenen Rechner am Arbeitsplatz verarbeitet und gespeichert. Das findet woanders statt, etwa in einem Rechenzentrum.
Ein wesentliches Merkmal von Cloud Computing ist darüber hinaus, dass Daten und Anwendungen in Echtzeit ständig und überall verfügbar sind. Zudem sind Anwendungen nicht wie früher auf den Computern am Arbeitsplatz selbst installiert. Sogar Hardware wie Computer, Firewalls, Router können in der Cloud als digitaler Zwilling nachgebildet und genutzt werden. Alle Teile und Komponenten von Computern werden so zu netzbasierten Services.
MEHRERE TEILE ERGEBEN EIN GANZES
Für die Finanzverwaltung mit ihrem historisch gewachsenen Gesamtsystem aus Computern und Software ist ein weiterer Aspekt besonders wichtig: In Cloud-Strukturen kann die Software modular aufgebaut sein, also aus einer Vielzahl von kleineren Anwendungen bestehen, die zwar reibungslos zusammenarbeiten, aber einzeln entwickelt und betrieben werden.
Die Einführung und Entwicklung solcher cloudfähiger Microservices ist für KONSENS nicht weniger als ein grundlegender Paradigmenwechsel. Dieser hat entscheidende Vorteile: Wenn Aktualisierungen oder Änderungen erforderlich sind – etwa wegen steuerrechtlicher Änderungen – muss in der Zukunft nicht mehr wie bisher das ganze System angepasst werden, sondern nur das entsprechende Modul. Jürgen Thiel, der neue Gesamtleiter in KONSENS, erklärt: »Der wichtigste Vorteil, den wir uns von Cloud Computing erwarten, ist ein Mehr an Effizienz und eine höhere Geschwindigkeit in unseren Prozessen.« Dabei liegt das besondere Augenmerk auf den Betrieben der kleineren Bundesländer: »Gerade für die übernehmenden Länder wäre es von Vorteil, wenn große und schwierige Installationsprozesse wegfallen. Diese Vorgänge müssen automatisiert stattfinden, zentral und schnell«, führt Jürgen Thiel weiter aus. Das würde sich auch positiv auf die tägliche Arbeit der gesamten Steuerverwaltung auswirken: »Wenn neue erforderliche Versionen oder Fehlerbereinigungen schnell gehen, profitieren mittelbar natürlich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Finanzämtern davon.«
Die flächendeckende Einführung von Cloud Computing in KONSENS ist eine große Aufgabe, deren Erfüllung Jahre in Anspruch nehmen wird. Dennoch zeigt sich Jürgen Thiel mit dem bisher Erreichten keineswegs unzufrieden: »Was den Betrieb in den Ländern anbelangt, stehen wir noch relativ am Anfang, da sehe ich noch viel Potenzial. Aber im Entwicklungsbereich nutzen wir die Technologie schon in großem Umfang. Das ist bei uns schon lange kein ›Wolkenkuckucksheim‹ mehr.« Der Gesamtleiter zeichnet das Bild einer modernen und dynamischen Organisation: »Generell sind wir immer bestrebt, technische Entwicklungen mitzugehen und deren Vorteile für uns zu nutzen. Dadurch können wir übrigens auch attraktive Arbeitsplätze bieten. Die Verwaltung wird ja mitunter mit kargen Amtsstuben voller staubiger Akten assoziiert. So ist es bei uns in KONSENS definitiv nicht.«
BLICK IN DIE PRAXIS: DER MICROSERVICE CLEKS
Ein Musterbeispiel für die moderne agile Entwicklung eines KONSENS-Microservices ist das Pilotprojekt „CleKS“, kurz für „Clearing bei der Zerlegung der Körperschaftsteuer“ (siehe Schaubild). Grundlage für dieses Verfahren sind Listen, die die Finanzverwaltungen der Länder quartalsweise erstellen und in denen das Land seine Ansprüche oder Schulden aus der Körperschaftsteuer gegenüber jeweils einem anderen Land beziffert. Aus den insgesamt 240 Listen errechnet das Bundesministerium der Finanzen die jeweiligen Zahlungsverpflichtungen.
Die Quartalslisten sind ein standardisiertes Produkt. Doch wie sie in den einzelnen Ländern erstellt werden, ist sehr unterschiedlich. Carola Jansen aus der Projektführung im Finanzministerium Hessen erklärt: »Bisher hat sich im Grunde jeder selbst beholfen. Alle Länder haben eigene Programme. Die Bandbreite reicht von relativ ausgeklügelten Abrechnungssystemen bis hin zu einfachen Excel-Tabellen. Im Grunde warten alle Beteiligten darauf, dass diese individuellen Lösungen durch die KONSENS-Anwendung CleKS abgelöst werden.«
Ende September 2024 wird das Produkt CleKS termingerecht technisch fertiggestellt sein. Mit ihm werden gleich drei Ziele erfüllt: Erstens wird die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Finanzverwaltungen der 16 Länder vereinfacht und verringert. Zweitens wird das bundesweit geltende Recht in diesem Bereich künftig einheitlich angewandt. Und drittens steht CleKS exemplarisch für den Grundansatz von KONSENS: Die Länder müssen keine eigenen Programme mehr betreiben, betreuen und das dafür entsprechende Wissen vorhalten. Die Anwendung wird zentral bereitgestellt, gepflegt und gewartet; im Falle von CleKS durch Hessen.
Dass die gesetzten Termine eingehalten werden konnten, ist vor allem der agilen Entwicklung zu verdanken: »Wir haben immer in Sprints, also Entwicklungsphasen geplant und entwickelt. Und um zu überprüfen, ob wir die termingerechte Fertigstellung unseres Produkts hinbekommen können, haben wir innerhalb des Prozesses Zwischenschritte definiert«, schildert Carola Jansen das Vorgehen. »Durch diese agile Arbeitsweise konnten wir frühzeitig erkennen, dass wir Gefahr liefen, unser Ziel zu verfehlen. Hätte man die Software auf herkömmliche Art und Weise geplant und entwickelt, wären die Probleme also vermutlich nicht rechtzeitig erkannt, der Zeitplan nicht eingehalten worden.«
TESTEN, TESTEN, TESTEN
Von der ersten Projektidee an ist eine länderübergreifende Arbeitsgruppe mit an Bord – die Zusammenarbeit läuft vernetzt. Zuerst haben die Beteiligten die Anforderungen an das komplexe Produkt in einem sogenannten Lastenheft festgeschrieben. Die Arbeitsgruppe stellt sicher, dass die Anwenderinnen und Anwender frühzeitig eingebunden werden. Auch kontinuierliche Tests sind Bestandteil des gesamten Projekts: »Wir wissen: Je später ein Fehler gefunden wird, umso schwieriger und aufwendiger ist es, diesen zu beheben«, sagt Carola Jansen.
Mit jeder neuen Entwicklungsstufe und Funktionalität gibt es einen sogenannten Unit-Test. Damit lässt sich überprüfen, ob ein neuer Entwicklungsschritt eventuell Nebeneffekte hat, durch die an anderer Stelle ein Fehler auftritt. Außerdem gibt es Modellierungstests. »CleKS entsteht auf eine für uns neue Art und Weise: Das Steuerfachpersonal spielt von Anfang an eine wichtige Rolle, indem es die Benutzeroberfläche, mit der später alle Anwenderinnen und Anwender arbeiten, im Prozess modelliert und gestaltet«, sagt Carola Jansen. »Zugleich entwickeln die Programmiererinnen und Programmierer die dahinterstehende Software weiter. Deshalb wird das entstehende Produkt von beiden Seiten – Entwicklung und Anwendung – permanent überprüft.«
CleKS ist als Microservice Teil des übergeordneten Großverfahrens ELFE und so mit einer Vielzahl anderer Verfahren über Schnittstellen verbunden. Um später eine reibungslose Zusammenarbeit zu gewährleisten, werden von Anfang an Integrationstests durchgeführt. Nach jedem Entwicklungsschritt werden nicht nur die einzelnen Schnittstellen überprüft, sondern auch die ganze Kette: Es wird getestet, ob Datensätze von Anfang bis Ende durchlaufen, im Hintergrund korrekt und vollständig verarbeitet und auf dem Bildschirm den Anwenderinnen und Anwendern richtig dargestellt werden. Auf diesem Weg wird das Verhalten von CleKS im Gesamtsystem KONSENS immer wieder überprüft.
Für die Entwicklerinnen und Entwickler hat CleKS eine besondere Bedeutung, weil es als erstes hessisches Produkt in einer Cloud betrieben wird. Der offizielle Roll-out ist für den 2. Januar 2025 vorgesehen: An diesem Tag beginnt im federführenden Land Hessen der Pilotbetrieb – in einer dreimonatigen Phase wird CleKS bereits im Echtbetrieb eingesetzt. Ab dem 1. April dann steht CleKS allen anderen Ländern zur Verfügung; diese haben dann die Möglichkeit, sich dem System sukzessive anzuschließen. Doch damit ist das Projekt noch nicht abgeschlossen. Carola Jansen erklärt: »Das Entwicklungsteam wird nicht im April 2025 aufgelöst. Wir halten noch Kapazitäten und Know-how vor, bis wir überzeugt sind, dass CleKS wirklich vollständig ist und mit allen Funktionalitäten, die wir uns vorgestellt haben, einwandfrei läuft. Aber natürlich ist es schon am 1. April ein gutes einsatzfähiges Produkt. Wir sind stolz darauf, dass wir nicht nur eines der ersten cloudfähigen Produkte für KONSENS entwickeln, sondern dass es auch tatsächlich in der Cloud betrieben wird.«
Carola Jansen
»CleKS entsteht auf eine für uns neue Art und Weise: Steuerpersonal modelliert und gestaltet die Benutzeroberfläche, mit der später alle Anwenderinnen und Anwender arbeiten.«
Tim Rieck
»Technologische Veränderungen werden oft von kulturellen Veränderungen begleitet. Die Anpassung der Unternehmenskultur an neue Arbeits- und Denkweisen ist entscheidend für den Erfolg.«
JAHRE DES UMBAUS
Verantwortlich für die Gestaltung der technischen Rahmenbedingungen zur Implementierung von cloudfähigen Microservices wie CleKS in KONSENS ist die Zentrale Organisationseinheit Architekturmanagement (ZOE ARC). Deren stellvertretender Leiter, Tim Rieck vom Rechenzentrum der Finanzverwaltung Nordrhein-Westfalen, erklärt: »Man muss sich der Historie und der Ausgangslage von KONSENS bewusst werden. Und dann wird sofort deutlich: Die Ablösung der Altverfahren erfolgt nicht ›über Nacht‹. Der geforderte technische Umbau zur Modernisierung und Vereinheitlichung respektive Standardisierung in KONSENS wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Und dabei muss zu jeder Zeit sichergestellt sein, dass sich alle aktuellen Anwendungen, die wir in den KONSENS-Verfahren haben, sicher und stabil betreiben lassen und mit unseren neuen und zugleich cloudfähigen Microservices kompatibel sind.«
Das Auslaufen von bestehenden Softwarelösungen ist für den Ingenieur Rieck ein quasi natürlicher und unvermeidlicher Prozess: »Jedes Produkt hat seinen Lebenszyklus. In unserem Fall bedeutet das: Man hat für eine bestimmte fachliche Anforderung eine Softwarelösung entwickelt, fertiggestellt und betrieben. Software altert nicht im physischen Sinne, aber irgendwann ist ein Programm so veraltet, dass es auf der neuesten Version von Windows oder Linux nicht mehr läuft oder Anpassungen zur Erfüllung von neuen fachlichen Anforderungen zu kostspielig werden. Und dann muss diese Softwarelösung durch eine neue Anwendung ersetzt werden.«
Cloud-Lösungen sind laut Tim Rieck wegweisend für die Steuerverwaltung von morgen. Als besondere Vorteile nennt er die gezielte und passgenaue Produkteinführung mithilfe einer Microservice-Architektur und agilen Vorgehensweise sowie die nach Bedarf mögliche Skalierbarkeit von neuen Anwendungen und Rechenleistungen. Für die herkömmliche Verarbeitung und Speicherung von Daten werden Hardwareressourcen in Rechenzentren gemietet oder reserviert. Microservices in der Cloud hingegen können dynamisch skaliert und priorisiert werden. Das bedeutet konkret: Wenn eine cloudbasierte KONSENS-Anwendung besonders intensiv genutzt wird, etwa weil eine bestimmte Frist abläuft und deshalb besonders viele Erklärungen eingehen, kann die Rechenleistung für diese Anwendung gezielt und zeitlich abgestimmt ausgeweitet werden – und das vollautomatisiert.
Als Allheilmittel sieht Tim Rieck die Cloud allerdings nicht: »In bestimmten Fällen kann eine Hybridstrategie oder eine serverbasierte Lösung passgenauer sein.« Weil KONSENS ein hohes Maß an Verantwortung innerhalb der Finanzverwaltung trage, sei jederzeit zu prüfen, welcher Weg zum Ziel führe. »Cloud-Technologien werden daher nur ziel- und bedarfsgerecht eingesetzt.« Für Tim Rieck und die ZOE ARC gilt es, mit Pilotprojekten wie CleKS in KONSENS möglichst schnell und umfassend Erfahrungen mit der Cloud zu gewinnen, um mit dieser Wissensgrundlage eine tragfähige und nachhaltige Infrastruktur für ganz KONSENS zu schaffen.
KOMMUNIKATION UND KULTUR
Fest steht für Tim Rieck, dass der Faktor Mensch in diesem Zusammenhang nicht aus den Augen verloren werden darf: »Technologische Veränderungen werden oft von kulturellen Veränderungen begleitet. Die Anpassung der Unternehmenskultur an neue Arbeitsweisen, Technologien und Denkweisen ist entscheidend für den Erfolg. Dafür ist eine zielgerichtete Kommunikation zwischen den verschiedenen Stakeholdern ebenso wichtig wie die technische Kompetenz.« Im KONSENS-Umfeld beobachtet er Offenheit für Neues und die Motivation aller Beteiligten, gemeinsam die Steuerverwaltung der Zukunft zu bauen: »Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Menschen in KONSENS geradezu auf die Chance gewartet haben, sich von klassischen Mustern zu lösen und neue Wege zu beschreiten. Das tun sie jetzt mit Engagement und Konsequenz.«